Montag, 29. Januar 2018

Stadttheater Heilbronn - Benjamin Hille, Schauspieler, 2005



Benjamin Hille ist Schauspieler am Theater Heilbronn

Vom Gottvater zum fiesen Bruder Franz

Von Jürgen Dieter Ueckert


MIT 16 JAHREN sieht Benjamin Hille zum ersten Mal Schillers "Räuber" im Theater - in seiner Heimatstadt Bremen. Jetzt spielt er am Stadttheater Heilbronn eine Hauptrolle in dem Sturm- und Drang-Stück. "Ich glaube, dass Schiller ein toller Autor auch für die heutige Jugend ist", erzählt der Schauspieler des Franz Moor begeistert. Schon 1992 war er von der Räuber-Inszenierung Hans Günther Heymes am Bremer Theater "hin und weg".


DEM WAAGE-MANN Hille ist das Theater quasi in die Wiege gelegt worden. Die Mutter, von Beruf Lehrerin, stark an Literatur interessiert - und der Vater, Deutsch- und Geschichtslehrer am Gymnasium, unterrichtet darüber hinaus auch "Darstellendes Spiel". Von den drei Kindern, eine ältere Schwester und ein viel jüngerer Bruder, hat es aber nur Benjamin bisher zum Theater gezogen. Zunächst als Zuschauer in ganz normale Vorstellungen, kurze Zeit später aber schon als Aktiver in den Jugendclub des Bremer Theaters.


DAS ERSTE THEATERSTÜCK, an das er sich erinnert? "Das Schwein, das nicht dick werden durfte" - ein Stück, das den damals Sechsjährigen ebenso beeindruckte wie später eine Inszenierung seines Vaters von Shakespeares "Sommernachtstraum". Aber Benjamin Hille wollte "unbedingt selber spielen, einfach mitmachen". Seine erste Rolle: Gottvater in einem Krippenspiel.


DIE HUMANISTISCHE Ausbildung am "Alten Gymnasium" in Bremen und das liberale Elternhaus prägen. Er spielt Klavier, komponiert, schreibt Gedichte und andere Texte _ und spielt während seiner Abiturzeit ("trotzdem ein recht gutes Zeugnis") seine erste richtige Hauptrolle, den Mackie Messer in Brechts "Dreigroschenoper". Noch während seines Zivildienstes an einer Behindertenschule spricht er an vier Schauspielschulen vor. Er kommt überall in die Endrunde - und entscheidet sich für die "Hochschule für Musik und Theater Hannover".


IN DER SCHAUSPIELSCHULE wird, was zuvor eruptiv aus Benjamin Hille herausbrach, mit "Persönlichkeitsentwicklung und -förderung" in Bahnen gelenkt: "Lernen herauszufinden, was beim Spielen wichtig ist - und natürlich professionell Sprechen, Singen und sich Bewegen." Mit dem Diplom in der Tasche "guckten wir Absolventen ein wenig ratlos in die Landschaft", hatten die Jungschauspieler aus Hannover doch auch gelernt, dass Staats- und Stadttheater in Deutschland "keine Kulturoasen" mehr sind, sondern in eisigen Winden politischer Realität heftig geschüttelt werden.


NACH DEM DIPLOM (eine Rolle in Rainald Götz' "Jeff Koons", Beurteilung in drei bis vier Vorsprechrollen und eine schriftliche Arbeit) gab es für das Nordlicht das erste Engagement am Pfalztheater Kaiserslautern, einem Dreispartenhaus: "Für den Anfang war das richtig - eine solide, eher konservative Intendanz, unter der man erst mal lernen konnte, wie man sich am Theater bewegt." Benjamin Hille lernt den Betrieb von der Pike auf kennen, spielt Klassiker, zeitgenössische Stücke, macht Life-Hörspiel, Lesungen und Showprogramme. "Aufgeschlossen sind die Menschen", die er in Kaiserslautern kennenlernt. Freundschaften werden geschlossen, die bis heute halten. Gutes Essen und ein Gläschen Wein, das kennzeichnet für ihn außerdem den Menschenschlag in der Pfalz.


BENJAMIN HILLE, der Mann mit den tiefblauen Hans-Albers-Augen, bleibt im Süden Deutschlands - wechselt 2003 ans Theater Heilbronn. Was wusste er von der Stadt am Neckar? "Bis auf den Theaterskandal um Corpus Christi und den Theaterfürsten Klaus Wagner hatte ich noch nicht viel von Heilbronn gehört. Umso mehr gilt es für mich zu entdecken - zum Beispiel auch die wunderschöne sanfte Hügellandschaft.“


AUFREGEND ist für Hille und Kollegen die erste Spielzeit unter der neuen Intendanz von Dr. Martin Roeder-Zerndt. Die Frage, "Wie übernimmt man ein Erbe, bei dem der Vorgänger 23 Jahre ganz patriarchalisch Theater geprägt hat", muss beantwortet werden. Bei den ersten Stücken, wie zum Beispiel "Hysterikon", spürt das neue Ensemble auch Wut beim Publikum. "Wir hatten das Gefühl, einige Leute werfen uns vor, ihr wollt uns doch nur provozieren. Dabei haben wir an den Stücken nur ausprobiert, was uns am Theater interessiert, was uns Spaß macht. Wir mussten natürlich auch herausfinden, was speziell die Heilbronner wollen - mussten unser Publikum erst mal richtig kennenlernen." Mit Goethes "Iphigenie", mit Ibsens "Volksfeind" , "My Fair Lady" und auch Schillers "Räubern" - "mit diesen Inszenierungen haben wir offenbar den Nerv getroffen".


DAS KINO liebt Benjamin Hille - und er liest gern. Der 186-Zentimeter-Mann treibt Sport (Yoga, Fußball, Schwimmen) - aber kommt kaum dazu: "Hier in Heilbronn muss ich noch mehr spielen als in Kaiserslautern." Wenn er Zeit dazu hat, dann isst er leidenschaftlich gern. "Gut Kochen, das ist für mich schon die halbe Miete", erzählt der hagere Jungmime schmunzelnd. Texte lernt er laut sprechend, beim Herumlaufen in seiner Wohnung hoch über Heilbronn (mit Blick zum Wartberg) oder am Neckarufer. Momentan probt er im Musical "Wild Party", eine Revue ein ausschweifendes Fest auf einem New Yorker Wolkenkratzer. Bei den "Nacht(s)chatten-Parties" gibt er mit viel Freude an Tanzmusik den DJ. Außerdem leitet er zusammen mit seinem Kollegen Peter Hausmann den Jugendclub des Theaters. Momentan arbeiten sie mit den Jugendlichen an Texten von Daniil Charms, einem russischen Dadaisten.


DIE "KANAILLE FRANZ" in Schillers "Räuber", landläufig der Fiese, nach Benjamin Hilles Auffassung der "Zu-Kurz-Gekommene" der beiden Brüder Moor, ist momentan die Lieblingsrolle des 28-jährigen: "Sie fordert mich heraus - und macht mir Freude; irrende, verzweifelte, suchende, kämpfende Menschen zu spielen reizt mich - die lieben Jungs sind mir oft zu langweilig."


Infokasten:

Benjamin Hille, geboren am 15. Oktober 1976 in Bremen.
Ausbildung: Abitur, 1996 bis 2000 an der Hochschule für Musik und Theater Hannover, Studiengang Schauspiel.
Engagements: 2000 Kultursommer in Gengenbach, Gast am Staatsschauspiel Hannover; 2000 bis 2003 Pfalztheater Kaiserslautern; seit 2003 Stadttheater Heilbronn.
Vorbild: Für die Bühne nennt Benjamin Hille den schweizer Schauspieler Jean Pierre Cornu, der nach dem Besuch des Max-Reinhardt-Seminars in Wien Mitte der siebziger Jahre unter Intendant Walter Bison im Gewerkschaftshaus seine ersten Rollen spielte. Danach war er in Tübingen, Bremen und Wien engagiert. Heute ist Cornu Ensemblemitglied am Züricher Schauspielhaus.

echo am Sonntag

10. März 2005

Stadttheater Heilbronn - Atev Vogel, Schauspieler, 2005



Atef Vogel verläßt zum Ende des Spielzeit das Stadttheater Heilbronn

Der Star des Heilbronner Theaters
ist ein "Mann mit dem guten Herzen"

Von Jürgen Dieter Ueckert

SEIN NAME gibt vielen Menschen Rätsel auf. Wer sich allein auf die Suche macht, findet im Lexikon „Atef“, die „Göttin aus Amduat“. In der Kombination „Kem-Atef“ weist der Name auf eine „mythologische Schlange“ hin, „die sich unaufhörlich verjüngt“. Und für Atef Vogel stammt sein Vorname schlicht aus dem afghanischen - ist ein sogenannter „erzählender Name“ und heißt übersetzt „Mann mit dem guten Herzen“. Der Grund: Seine Mutter ist Deutsche, der Vater Afghane.


EIN NORDLICHT ist der am 21. April 1977 in Hannover im Sternzeichen „Stier“ geborene Atef Vogel: „Erdverbunden – und manchamal auch ein wenig stur“. Aber “Nordlicht“ blieb er nicht lange. Mit neun Jahren zog er nach Oberhausen ins Ruhrgebiet – wegen der Scheidung der Eltern zu seiner Mutter. Er erinnert sich an eine „ganz normale Schulzeit im Pott“ – bis hin zum Abitur. Und er denkt gerne an seine zweite Heimat Nordrhein-Wetsfalen zurück: „Vor allem an die Mentalität der Menschen – ein offener und herzlicher Menschenschlag.“ Später hat er das oft vermisst, wenn bei anderen erst nach vielem hin und her klar wurde, was eigentlich gemeint war.


SPORT war während seiner Schulzeit ein ganz gewichtiger Teil in seinem Leben. Von 1994 bis 1997 gehörte er dem Kader der deutschen Judo-Nationalmannschaft an – und im Jahre 1996 war er sogar Deutscher Meister im Judo. Aber diese „Extremerfahrung im Leistungssport“ ließ ihn irgendwann fragen: „Ist es denn so wichtig immer besser zu werden?“ Bei vielen älteren Sportkameraden sah er, wie sie an den Folgen ihrer Aufopferung für den Sport körperlich litten. Das Fazit für Atef Vogel lautete: „Das hat für mich keine Zukunft.“


ZUM THEATER kam er, „weil mich ein Mädchen dort stark interessierte“. Schule oder Elternhaus hatten ihm weniger Impulse für das Interesse an dem vermittelt, was für ihn heute „die Bretter sind, die die Welt bedeuten“. Und aus „Lust an der Freude“ war er gleich mittendrin – in der Theaterspiel-Werkstatt des Stadttheaters Oberhausen. Mit richtigen Schauspielern auf der Bühne stehen, diese Leidenschaft packte ihn – und wurde auf der Studiobühne des Theaters Realität. An das Stück damals erinnert er sich auch noch: Theresa Walsers „Brim“. Für den Schüler Atef Vogel eine „tolle Erfahrung“. War er trotz Theater als Hobby ein gute Schüler? „Ich war bestimmt kein braver Schüler, aber ein guter schon.“


VORSPRECHEN an deutschen Schauspielschulen war schon während seiner Zivildienstzeit angesagt. Denn für Atef Vogel stand ohne Zweifel und jegliches Wanken damals fest: „Ich werde Schauspieler.“ An vier Schulen in Deutschland zeigte er sein Können – und in München wurde er genommen. Die acht Semester dauernde Ausbildung absolvierte er an der renommierten „Bayrischen Theaterakademie August Everding“. Hobbies oder ähnliches – zum Ausgleich? „Nein, das Schauspielstudium ist eine sehr intensive Angelegenheit, die bindet auch emotional ein.“ Sport hatte er mehr als genug als tagtägliches Arbeitspensum – dazu Sprechen und Singen lernen, „so dass andere Menschen auch bereit sind, zuzuhören“. Und er musste herausfinden, sich so zu bewegen, dass Zuschauer kapieren, was auf der Bühne gespielt wird.


SPIELEN war schon während des Studiums für Atef Vogel ein Selbstverständlichkeit – ob am Residenztheater oder in Off-Theatern wie dem Münchner Metropol. Neben diesen Bühnenauftritten gehören auch Filme für ihn zur notwendigen Einübung in den Schauspielerberuf. Auf vier Arbeiten, in denen er mitgespielt hat, weist er stolz hin: Matthias Lehmann „Doppelpack“, Vivian Naefe „So schnell Du kannst“, Rainer Matsutani „Schaukampf“ und Miguel Alexandre „Geheimnis des Lebens“. Lieblings-Spielfilme von Atef Vogel? Die Dogma-Filme von Lars von Trier. Lieblingsschauspieler im Kino: Marlon Brando und Isabelle Huppert. Und auf der Bühne? „In der Studentenzeit haben mich Michael Mertens oder Edgar Selge beeindruckt.“


BEI DEN KLASSIKERN der Theaterliteratur nennt er spontan als seine Lieblinge Friedrich Schiller und Gotthold Ephraim Lessing – „und natürlich Heinrich von Kleist, ich bin ein Fan seiner Sprache.“ Hermann Hesse war der Romanautor seiner Jugend, „aber jetzt, wo ich älter werde, kommt er mir oft geschwätzig vor“. Atef Vogel liest gerade „Gefährliche Geliebte“, ein Buch des Japaners Haruki Murakami, in dem ein Mann bereit ist, für seine plötzlich auftauchende geheimnisvolle Jugendliebe seine ganze bisherige Existenz aufzugeben. Essen und Trinken gehören für ihn aber neben Lesen auch zu unverzichtbaren sinnlichen Genüssen. Er kocht selber gern, „vor allem afghanisch“. Und „die selbstgemachten Maultaschen oder den Bärlauch, das habe ich erst hier richtig kennen- und liebengelernt.“


SEHR VIEL GLÜCK habe er mit Heilbronn gehabt. Gereizt hat ihn die neue Theateraera unter dem Intendanten Martin Roeder-Zerndt. Atef Vogel ist glücklich darüber, dass „ich ein völlig uneitles Ensemble vorfand, das sich über alle Probleme konstruktiv auseinandersetzt.“ Mit jedem im Hause könne er offen reden. Intrigen, die Theaterleuten oft nachgesagt werden, habe er in Heilbronn überhaupt nicht feststellen können. Er sei mit seinen Rollen in das Haus „richtig reingewachsen – statt in verkrusteten Hierarchien sich einen Platz zu erobern. Seine Lieblingsrolle: Werther. Das erfolgreiche und vielgelobte Einpersonenstück in den Kammerspielen war eine „Herausforderung“ für ihn – „die Rolle liebe ich, an der arbeite ich mich immer wieder aufs Neue Abend für Abend ab“.


DER STAR im Stadttheater Heilbronn will Atef Vogel nicht sein. Aber er ist es. Die Kritiken für ihn sind nahezu durchweg freundlich bis jubend. „Atef Vogel spielt den Lebkuchenmann so quirlig und aufgedreht, dass man denkt er sein aus Gummi.“ Und beim Werther lautet das dicke Lob „Goethe trifft Vogel – eine zündende Begegnung“ – und danach wird klargestellt: „Atef Vogel durchmisst dieses Land der emotionalen Extreme sicheren Fußes: 75 Minuten höchste Anspannung, kraftraubende Körperlichkeit und das Publikum als einzigen Ansprechpartner.“ Zum Beweis, dass er nicht der Star des Theaters sein kann, führt er seine erste größere Rolle in „Making Babies“ an: „Das wurde von Publikum nicht so gut aufgenommen, es war ein Experiment, das ich gut fand – auch daraus konnte ich lernen.“ Ohnehin wünschte er sich bei der Regie oftmals mehr Mut zum Experiment.


SEINE FANS haben Atef Vogel eine Homepage im Internet eingerichtet. Die Gründe: „Weil er ein besonderes schauspielerisches Talent hat; weil keiner so energiegeladen auf der Bühne tollen kann; weil er neben seinen schauspielerischen Qualitäten auch noch verdammt gut singen und tanzen kann.“ Kennt er die jungen Damen, die einen Fanclub für ihn gegründet haben? „Ja“, antwortet er schon ein wenig stolz, „das sind sehr nette und theaterinteressierte Leute“. Die Berührungsängste zwischen Publikum und neuem Ensemble, die waren für Vogel „von beiden Seiten zunächst stark spürbar“. Aber in diesem Verhältnis habe sich viel verändert, ja „verbessert, denn die Leute sind heute offener und begeisterter als am Anfang“. Eltern und Freundin („eine Fernbeziehung“) waren bei all seinen Premieren in Heilbronn dabei; das hat ihn besonders gefreut.


ZUM ENDE dieser Spielzeit, also Ende Juli, verlässt Atef Vogel aus eigenem Entschluss Heilbronn. „Ich bin noch ein Anfänger im Theater“, begründet er seinen Weggang aus der Käthchenstadt bescheiden, „und ich will mich weiterentwickeln, ich brauche neue Herausforderungen – und dazu werde ich frei arbeiten.“ Was und wie und wo, das verrät er noch nicht. Weg aus der Provinz – zurück in die Kulturstadt München? „Das Wort Provinz finde ich immer schwierig, denn das Publikum kann man oft nicht so recht unterscheiden, ob die nun in Heilbronn sind, in den Kammerspielen in München oder im Deutschen Theater in Berlin.“


echo am Sonntag

Dienstag, 1. April 2014

Stadttheater Heilbronn - Vorstellungen beim "Stammtisch" (1984)


Der Theater-Spielplan 1984/85 wurde beim „Stammtisch“ vorgestellt


Erfolge – und ein Skandal?


„Insgesamt können wir zu­frieden sein. “ - So lautete ein vorläufiges Fazit des Verwaltungsdirektors am Heilbronner Stadttheater, Jürgen Frahm, beim Mai-Theater-Stamm tisch, einer allmonatlich ab­laufenden Veranstaltung des „Theaters Heilbronn". Seine Rechnung: In der vergangenen Spielzeit 1982/83 - der ersten im neuen Haus am Berliner Platz - hatte das Stadttheater rund 172.000 Besucher ge­zählt. Jetzt, das heißt Ende April 1984, zählte man schon 139.500 Besucher. Hochge­rechnet auf die Spielzeit 1983/84 würde das heißen:  185.000 Zuschauer, ein neuer Besu­cherrekord in Heilbronn.


Die Platzausnutzung im Gro­ßen Haus habe, so Frahm, in der laufenden Spielzeit bisher 89 Prozent betragen, in den Kammerspielen sogar 90,5 Pro­zent. Die Platzausnutzung bei einzelnen Stücken, laut Jürgen Frahm: „Beckett oder die Ehre Gottes" 84,7 Prozent, ,,Im wei­ßen Rössl" 99 Prozent, „Kri­stallklar" 93,5 Prozent und „Wie man was wird im Le­ben ..." 90 Prozent. Unver­kennbar sei im Kammertheater am Berliner Platz, so Frahm, der Hang der Zuschauer zum Boulevardtheater.


Die Eigeneinnahmen des Theaters Heilbronn hatten im Rechnungsjahr 1983 2,6 Mil­lionen Mark oder 27 Prozent des Theater-Haushalts betra­gen (Bundesdurchschnitt rund 12 Prozent). Die Stadt Heilbronn hatte dem Theaterbe­trieb mit 3,3 Millionen Mark unter die Arme gegriffen, der Anteil des Landes Baden-Württemberg lag bei 3,5 Mil­lionen Mark und der Landkreis Heilbronn konnte lediglich 20.000 Mark beisteuern.


Bis zum Ende der laufenden Spielzeit 83/84 wird es noch folgende Premieren am Heil­bronner Theater geben: Im ,,Großen Haus" am Berliner Platz inszeniert der Intendant Klaus Wagner Bertolt Brechts „Der gute Mensch von Sezuan" (Premiere am 17. Mai 1984, 19:30 Uhr), und in den Kammerspielen wird am 23. Mai 1984 um 20 Uhr Frederico Garcia Lorcas „Und sie legen den Blumen Handschellen an", eine Gemeinschaftsregie der beteiligten Schauspieler, aufgeführt werden. Peter Lüdi ist der Regisseur der Farce von Philip Kings „Lauf doch nicht immer weg“, die am 2. Juni im Großen Haus Premiere haben wird. Das Stück soll auch in der kommenden Spielzeit am Heilbronner Theater zu sehen sein, ebenso wie die Erfolgs­inszenierung der laufenden Spielzeit „Das Weiße Rössl", eine Arbeit von Franz Winter.


Eröffnet wird die neue Spiel­zeit 1984/85 mit Tankred Dorsts „Merlin“. Inszenierung: Franz Winter. Der Wiener Re­gisseur und Burgschauspieler Winter soll in vier Stücken der kommenden Spielzeit Regie führen. Intendant Klaus Wag­ner will drei Stücke inszenie­ren. Außerdem sollen - so ist die Planung- die Regisseure Peter M. Preissler, Peter Lüdi und Matthias Gärtner wieder am Heilbronner Theater ar­beiten.


Der „Theater-Skandal“  der laufenden Saison, der Theater- Ball des Stadttheaters, scheint für die Theaterleitung kein „Reizthema" zu sein: „Wir können es uns nicht leisten, den Eintrittspreis für einen Theater-Ball zu subventionie­ren." - Achtzig Mark wird eine Eintrittskarte für den Ball am 19. Mai 1984 kosten. Darin ist die Teilnahme an einem „Schlemmerbuffet“ auf drei Etagen des Hauses beinhaltet.


Von den 648 Karten, die ins­gesamt 51.840 Mark einbringen werden, sollen laut Aus­kunft des Theaters bis zum Dienstag dieser Woche schon rund 450 verkauft worden sein. Verwaltungsdirektor Jürgen Frahm „ Wir kriegen es voll. Es läuft ausgezeichnet." Der Theaterförderverein wird in

Zusammenarbeit mit den Theaterfreunden eine Tombo­la durchführen, bei der 3.000 Lose zu je zehn Mark unters Ball-Volk gebracht werden. Hauptgewinn: ein Automobil.


Ort des Ball-Geschehens ist der Vorplatz und das Foyer des Theaters am Berliner Platz. Der Ball soll um 19.30 Uhr be­ginnen - am Theaterbrunnen wird ein Empfangscocktail ge­reicht, dazu gibt es ein Vorpro­gramm. Dann soll es feierlich durch die Kammerspiele ge­hen, vorbei an der Tombola, hin zu den Tischen mit ihren 648 Plätzen. Im Hauptfoyer wird ein achtzehn Meter lan­ger Tanz-Parkettfußboden aus­gelegt werden.


Zum Tanze spielen die Stutt­garter Bands „Dancing Que­en" und die „Nice-Kemmer- Band". Das Programm bietet außerdem Gesangseinlagen der Heilbronner Sängerin Margerita Cantero, die aus dem karibischen Raum stammt, sowie Lieder, die von Ilja Rich­ter vorgetragen werden sollen. Eine „Mitternachts-Show" ar­rangiert von Madeleine Lienhard, bei der Songs aus den am Heilbronner Hause gezeigten musikalischen Produktionen gesungen und vorgeführt wer­den, ist außerdem angesagt.


Durchlöchert wird die Thea­ter-Ankündigung, daß der Ball im Theater nicht subventio­niert werde, durch die Tatsa­chen, daß er im Hause am Ber­liner Platz stattfindet, also ein Teil des Ensembles „kosten­los" zur Verfügung steht, Putz- und Garderobendienste arbei­ten und die Theater-Werkstätten die Ausstattung besorgt haben.  Der Grundsatz der Chancengleichheit für alle das Theater subventionierenden Bürger ist somit nicht gewahrt. (JDU)


Provinz-Theater


Von Jürgen Dieter Ueckert

Ilja Richter sagt, der Inten­dant Klaus Wagner sei ein un­ermüdliches Theaterpferd. Dem kann man als Beobachter voll zustimmen. Seit Wagner das Heilbronner Theater leitet, hat es Zuwächse, die es gleich­berechtigt neben andere deut­sche Stadttheater stellt.


Angetreten ist Wagner vor rund vier Jahren mit dem Leit­satz „Vielfalt und Überra­schung“. Heute sagt er auch (beim Mai-Theater-Stammtisch): „Gewöhnung ist eine kulturelle Erfindung der Welt, keine bürgerliche Notwendig­keit. “ Wagner als Figaro des Theaters, der vieles auf einmal will, der Gegensätzliches - und sei es noch so weit von einander entfernt – verbinden möchte. Die ganze Welt auf die Bühne.


Was kommt bei diesem Bie­gen und Brechen heraus? Stücke von Brecht, Nestroy, Les­sing, Tankred Dorst, Margaret­he von Trotta oder Tennessee Williams, Philip King, Neil Si­mon für den Spielplan 1984/85. Deutsche Stadttheater-Durchschnittsware? Zum Teil. Das muß wahrscheinlich so sein, um in Heilbronn ein er­folgreiches Theater zu leiten.


Klaus Wagner will Provinz­theater machen. Mit all seinen Stärken und Schwächen. Das ist ihm bisher gelungen. Zuvor hatte Heilbronn einen Ab­klatsch davon. Ein Schelm, der jetzt Schlechtes dabei denkt.


Neckar-Express
Rhein-Neckar-Zeitung
16.04.1984

Samstag, 29. März 2014

Stadttheater Heilbronn - Notizen, Beobachten und Betrachtungen 1987


Worüber man spricht in den letzten fünf Jahren

Erfolgreiche Premieren und vieles andere mehr

Von Jürgen Dieter Ueckert

Klaus Wagner im Neckar-Express-Interview am 18. November 1982 zur Eröff­nung des Stadttheaters Heilbronn: „Ich denke, daß oft viele Stadt­theater allzu sehr sich als Diminuitiv (Red. Anm.: Verkleinerung)  der Metropolen betrach­tet haben und immer das Spe­ziellste nachzumachen versucht haben, statt sich als etwas zu verstehen, was eigentlich viel wichtiger ist: Boden zu sein für das, was dann weitergehen muß.“
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Kurt. Gerling, Theater-Archi­tekt, am 18. November 1982 in einem Neckar-Express-Interview zum geplanten Kulturan­bau auf dem Berliner Platz: „Da kann kein Architekt glücklich sein, wenn nur die Hälfte von dem steht, was als Ganzes ein­mal auf dem Platz stehen soll. Aber es ist ja so, daß die Heilbronner die Absicht haben, die­sen Anbau zu erstellen. In der längerfristigen Finanzplanung sind auch Zielvorstellungen vorgegeben. Wir hoffen, daß es diesmal schneller geht als beim Theater und nicht wieder zwanzig Jahre vergehen, bis der Westabschluß des Berliner Platzes entsteht."
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Werner Thunert, Chefredak­teur der Heilbronner Stimme, in der Sonderbeilage seiner Zeitung am 16. November 1982: „Während andernorts an den Grundfesten der Existenz der Theater gerüttelt wird, suchten die Verantwortlichen der „kleinen Großstadt" das Wagnis des Theater-Neube­ginns. Sie taten dies nach ei­nem Jahrzehnte andauernden „Theater ums Theater", das in seiner Leidenschaftlichkeit so­gar alte Freundschaften zerbre­chen und das normale Mitein­ander der Parteien zu einem unversöhnlichen Gegeneinan­der wuchern ließ. Die Ausein­andersetzungen scheinen heute vor dem Hintergrund der Neubau-Euphorie verblaßt zu sein. Sie können aber nach dem Glanz der Premieren rasch wie­der aufflammen, wenn eines Tages die nackten Erfolgs- oder Mißerfolgszahlen mit dem un­bestreitbaren kulturellen Wert der bedeutsamen regionalen Einrichtung in Einklang ge­bracht werden müssen. Auch der Staat als Subventionsgeber wird eines Tages die Meßlatte anlegen."
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Klaus Wagner auf der „Spielplan-Pressekonferenz 1982/83" am 10. November 1982: „Das Konzept des Heilbronner Thea­ters ist jenes, das ich schon seit zwei Jahren verfolge und wei­ter verfolgen will. Nämlich daß hier in Heilbronn Provinz beim Wort genommen wird, junge Leute sich ausprobieren und so die Basisarbeit für die Institu­tion gemacht wird, damit dies auch ein Lebendigkeitserlebnis für das Publikum ist. Wir wol­len in Heilbronn nicht Theater als literarische Spezialität und nicht als politisches Forum be­trachten, sondern Theater als unverwechselbaren Augen­blick präsentieren, in dem et­was auf der Bühne geschieht."
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Die regionale und überregio­nale Presse berichtete zur Eröffnung des neuen Heilbronner Theaters mit dem amerikanischen Musical „My Fair Lady" sehr unterschiedlich.
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Südwestpresse: „Die Hydraulik feiert hier nie geschaute Triumphe. Der Re­gisseur Klaus Wagner ist voll­auf damit beschäftigt, das Büh­nenbild zu inszenieren. Für die darin agierenden Personen hat er keine Führungshand mehr frei, Aber die sind bei diesen Wundem der Technik auch nicht so wichtig - Hauptsache, die Bühnenwandlungen gehen schnell und reibungslos vonstatten.“
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Stuttgar­ter Zeitung: „Die Hilflosigkeit vor der neuen gerühmten Technik des Hauses war grandios. Nichts zeigte augenfälliger, daß die Heilbronner Trappe, die so tap­fer in ihren Provisorien gespielt hatte, den Neubau noch lange nicht bezogen hat."
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Süddeutscher Rundfunk: „Vom Musical blieb ein we­nig Gesang. Die Geschichte wurde aus der lässigen, großzü­gigen Musical-Show in die enge Puppenstube des 19. Jahr­hunderts zurückgepeitscht ... In die viktorianische Scheinidylle setzte Wagner sein Zappel-Musical mit Marionettenfi­guren. Von Komödie war in dieser Inszenierung kaum et­was zu spüren. Es war ein Schlag aus der Zauberkiste des „Nichterwartbaren", dem Motto des Intendanten und Re­gisseurs. Frage: Warum ist ,My Fair Lady', das Musical, in Heil­bronn auf offener Bühne exeku­tiert worden."
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Heilbronner Stimme: „Alle waren wohl überfordert, die Hauptdarsteller aber beson­ders ... Klaus Wagners Bühne muß an und in diesem neuen Haus noch wachsen und lernen - vor allem, die Selbstüber­schätzung zu vermeiden."
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Im Vergleich der Einspiel­-Ergebnisse der Stadttheater von Städten mit 100.000 bis zu 200.000 Einwohnern steht Heil­bronn gut da. Die folgend auf­geführten Einspielergebnisse zeigen in Prozenten die von den Theatern erwirtschafteten Einnahmen in Bezug auf die Gesamtausgaben. Die Zahlen sind der Statistik des deutschen Bühnenvereins, die im Juni 1986 herausgegeben wurde, entnommen: Saarbrücken 15,1 Prozent (Saarländisches Staatstheater); Mainz 18,9 Prozent (Theater der Landeshauptstadt Mainz); Kassel 12,5 Prozent (Hessi­sches Staatstheater Kassel); Freiburg 9,6 Prozent (Städtische Bühnen); Osna­brück 14,6 Prozent (Städtische Bühnen); Oldenburg 12,5 Pro­zent (Oldenburgische Staatstheater); Bremerhaven 10,9 Prozent (Stadtthea­ter); Darmstadt 14,5 Prozent  (Hessisches Staatstheater); Heidelberg 12,4 Prozent (Stadt­theater); Göttin­gen 15,9 Prozent (Deutsches Theater); Würzburg 19,0 Prozent  (Stadtthea­ter); Regensburg  14,5 Prozent (Stadttheater); Ko­blenz  12,7 Pro­zent (Stadttheater); Heilbronn   26,8 Prozent (Stadttheater); Pforzheim 11,4 Prozent (Stadt­theater); Hildes­heim 17,6 Pro­zent. (Stadttheater).
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Die zweite Premiere am Stadt­theater war im November 1982 Goethes „Faust I“ in der Insze­nierung von Klaus Wagner. Die Stuttgarter Zeitung schrieb: „Man hat Angst zu glauben, daß es etwas anderes war als panische Angst vor dem neuen Haus und den ungewohnten vielen Zuschauern in diesem Haus, das den Regisseur in die dicksten Stilfarbtöpfe fassen ließ, optisch und akustisch ... Dem Regisseur war offensicht­lich die Binsenweisheit - man hofft, vorübergehend - abhan­den gekommen, daß alle Kunst zunächst einmal im Weglassen besteht: im Weglassen und Ent­rümpeln der eigenen Klischee­vorstellungen vom Theater­spiel."
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Klaus Wagner an seine „Lieben Theaterfreunde" im Theater- Blatt Nummer 11, Januar 1983: „Was mußten Sie alles lesen in diesen Eröffnungswochen über Ihr Theater - daß alles dort schlecht ist und fehlgeplant und verkorkst und krisenge­schüttelt. Wenn Sie eine der Vorstellungen jetzt besuchen, dann kann das nur ein Irrtum von Ihnen sein. Vielleicht, liebe Theaterfreunde, verstehen Sie nichts vom Theater. Ich und viele meiner Mitarbeiter hatten es schwer in diesen Wochen angesichts der haßerfüllten Kampagne, die sich da kübelweise über uns ergoß, schwer vor allem, weil wir wußten, daß Sich-wehren gegen Vorurteile und Inkompetenz sinnlos ist und daß Richtigstellen kein Mittel ist, wenn es gar nicht um Sachlichkeit geht."
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Jahr für Jahr wechseln viele Schauspieler - auch am Heil­bronner Theater. Begabte und weniger auffällige geben sich die Klinke in die Hand. Schau­spieler-Namen, die durch ihre außerordentlichen Leistungen in den letzten fünf Jahren auf­fielen: August Schmölzer, Christoph Gareifien, Thomas Bestvater, Claudia-Sophia Jeli­nek, Miklos Horvath, Evelyn Plank, Wolfgang Dombrovsky, Soeren Langfeld, Christopher Krieg, Dominik Hillisch, Franz Forschauer.



Sonderbeilage NECKAR-EXPRESS zu
„Fünf Jahre Theater Heilbronn am Berliner Platz“
Donnerstag, 24. September 1987
Nummer 39 / Seite 13 bis 24