Freitag, 28. März 2014

Stadttheater Heilbronn - Interview mit Intendant Klaus Wagner (1987)



Sieben Jahre Aufbau –
Kampf um öffentliche Zustimmung

Jürgen Dieter Ueckert im Gespräch
mit Klaus Wagner, Heilbronns Stadttheater-Intendant

Jürgen Dieter Ueckert: Theater sollte in der Gesellschaft immer ein Skan­dal sein oder einen darstellen - wie auch immer; in den sechziger und siebziger Jahren formulierten einige Theaterma­cher mit diesen und ähnlichen Sätzen ihr Konzept. Inwiefern ist Ihr Konzept, Herr Wagner, skandalös? Stichwort: Der Mensch in Komödie und Tragö­die ist immer am Rande seiner Existenz angesiedelt.

Klaus Wagner: Für Menschen, die Einordnung und Unterordnung für ein Lebensrezept halten, ist das Außerordentliche immer ein Skandal Und daß der Mensch im Theater in Komödie und Tragödie am Rande seiner Existenz angesiedelt ist, halte ich für wahr. Die Wahrheit zei­gen ist skandalös. So verstan­den, ist Theater skandalös und es gehört zu meinem Konzept für das Theater, die Wahrheit zu zeigen und Menschen am Rande ihrer Existenz zu zeigen. Ich kann mich also freuen, daß Ihre Formulierung mich in die Reihen progressiver Theater­macher stellt. Leider gelingt es nicht immer, zu erfüllen, was man will. Im Sinne Ihrer For­mulierung werden sicher viele sagen: Gott sei Dank.

Ueckert: Herr Wagner, der Streit vor dem Heilbronner Ar­beitsgericht um Ihr 13. Monats­gehalt ist vorüber. Sie haben Ihre Klage gegen die Stadt Heilbronn nach einem Ge­spräch mit Oberbürgermeister Dr. Manfred Weinmann zu­rückgenommen. Es gibt: also keinen zweiten Prozeßtermin und damit auch kein 13. Mo­natsgehalt. Sie beharren aber weiterhin auf Ihrem bisherigen Rechtsstandpunkt. Wie ist diese neue Konfusion zu verstehen?

Wagner: Der Blick auf die zu­künftige Entwicklung hat den Herrn Oberbürgermeister und mich zusammengeführt und uns einen Ausgleich nahege­legt. Der Sinn des, Streits war ja von vornherein, vor Augen zu führen, daß der Umgang der Verwaltung mit dem Theater und seiner Leitung in Zukunft überprüft werden muß. Der Streit hat das in den letzten Mo­naten deutlich gemacht. Jetzt - im Hinblick auf die Neuord­nung der Zuständigkeiten, die Innenministerium und Ministerpräsident der Stadtverwal­tung nahegelegt haben - mußte an die Zukunft des Theaters gedacht werden. Es ist deshalb si­cher keine Konfusion, wenn man auf Konfrontationen ver­zichtet, auch ohne Rechtsstand­punkte zu verlassen.

Ueckert: Herr Wagner, Ihr zweiter Fünf-Jahres-Vertrag als Intendant des Stadttheaters Heilbronn läuft 1990 aus, Wenn Sie oder die Stadt 1988 Ihren Vertrag nicht kündigen, verlän­gert er sich automatisch bis 1992, danach in derselben Pro­zedur bis 1995. Nach den Ge­schehnissen der letzten Wo­chen und Monate - glauben Sie, daß Sie das Heilbronner Theater auch in die neunziger Jahre führen werden?

Wagner: Als mir der Herr Oberbürgermeister seinerzeit die Frage stellte, ob ich mich über das Jahr 1985 hinaus an das Theater der Stadt Heil­bronn binden wollte, antwor­tete ich, daß ich mit einer sol­chen Bindung über den Rest meiner Lebensarbeitszeit und -arbeitskraft verfügen müßte. Der Herr Oberbürgermeister fand das damals vernünftig und akzeptabel. Ich habe bis heute keinen Grand, zu glauben, daß die Stadt Heilbronn von dieser Vertragsvoraussetzung abwei­chen will.

Ueckert: Der persönliche Kon­takt zwischen Ihnen und dem Kulturdezernenten der Stadt ist gleich null. Sie verkehren vor­nehmlich schriftlich oder über Dritte miteinander. Ist das für Sie ein tragbarer Zustand? Müssen sich nicht beide Seiten im Interesse des Theaters auf­einander zubewegen?

Wagner: Theater ist eine mit Verwaltungsnormen schwer vereinbare Institution. Das Kulturdezernat ist die Nahtstelle, an der sich die Bedürfnisse des Theaters mit diesen Normen treffen können. Dort könnten Unverständnisse und Mißver­ständnisse ausgeräumt, gemil­dert, und Wege gewiesen wer­den. Deshalb ist es bedauerlich, wenn der Kontakt zwischen In­tendant und Dezernent geringer ist, als das wünschenswert wäre. Ich nütze aber jede Gelegenheit, um diesen Kontakt herzustellen und werde das auch zukünftig tun.

Ueckert: Herr Wagner, Sie deu­teten es schon an - in nächster Zeit wird es noch harte Ver­handlungen mit der Stadt Heil­bronn geben. Die Landesregie­rung in Baden-Württemberg will, daß Zuständigkeiten neu geordnet werden. Wird die Po­sition des Intendanten dadurch gestärkt oder - Ihrer Ansicht nach -  eher geschwächt?

Wagner: Um die Position des Intendanten geht es bei der Neuordnung der Zuständig­keiten nur insoweit, als bessere Arbeitsvoraussetzungen ge­schaffen werden sollten, mit denen das Theater aus seiner eigenen Kompetenz im Rah­men seines Etats leben kann. Daß diese, die Zuständigkeiten der Theaterleitung neu ordnende Verfassung notwendig ist, haben die Landesregierung und der Herr Ministerpräsident persönlich bekundet. Ich will mithelfen, daß eine tragfähige Neuordnung in den nächsten Monaten zustande kommt, und ich achte dabei nicht vorrangig auf eine Schwächung oder Stärkung meiner eigenen Posi­tion.

Ueckert: Theater kostet Geld - viel Geld. Viele Heilbronner Vereine könnten neidisch sein. Und Angriffe gegen das Thea­ter sind oft in diesem Neid be­gründet. Am billigsten wäre es, kein Theater zu unterhalten, schwäbisch gesagt. Wer sich entschließt, subventioniertes Theater zu veranstalten, muß heutzutage tief in die Stadt- und Staatssäckel greifen. Reicht der Zuschuß für das Heilbronner Theater aus?

Wagner: Verwaltungsdirektor Frahm hat in den letzten Mona­ten eruiert, wieviel Geld in ei­ner Kommune die Tatsache in Umlauf bringt, daß sie sich zur Subventionierung eines Thea­ters entschlossen hat. Das läßt eher den Schluß zu, daß es ein vernünftiger wirtschaftlicher Entschluß ist, ein Theater zu subventionieren, und daß Geld bringt, was Geld kostet. Der Zuschuß, den Heilbronn für das Theater trägt, muß aber auch in Zukunft so bemessen sein, daß es für die Kommune zumutbar ist, dieses Theater zu betreiben. Das wird in dem Zuschußrah­men möglich sein, der im Au­genblick zur Verfügung steht - normale Steigerungen der Einzelpositionen natürlich ein­gerechnet.

Ueckert: Schauspieler an Ihrem Hause werden nicht gerade üp­pig entlohnt. Der Mensch steht im Luxusgegenstand Theater im Mittelpunkt - nicht Prunk und Protz in der Selbstdarstel­lung des Hauses. Warum sind Schauspieler mit ihren Gagen, im Verhältnis zur Arbeitszeit so miserabel dran? Kämpfen Sie, Herr Wagner, nicht genug für die Schauspieler, gegen eine am falschen Ende sparende Verwaltung des Hauses?

Wagner: Die Honorierung der Künstler ist im Vergleich zu ih­rem Lebensrisiko in der Tat oft gering. Die Gagen des Heil­bronner Theaters bewegen sich aber in der Vergleichbarkeit mit ähnlichen Häusern. Eine Monatsgage, die zu Beginn meiner Amtszeit unter 2.000 Mark lag, beträgt in der Zwi­schenzeit über 3.000 Mark. Auch die Anfängergehälter ha­ben etwa dieselbe Höhe wie an vergleichbaren Instituten. Nicht jeder junge Schauspieler aber ist für uns das wert, was er fordern zu können meint. Man­che verstehen auch die Sicher­heit, die ein Jahresvertrag in Heilbronn bietet, falsch, wollen eine vertragliche Bindung, die sie eingegangen sind, nicht mehr - oder nur dann erfüllen, wenn sie ihre Vorstellungen von Geld durchsetzen können. Sie wollen erst fordern und dann - vielleicht - lernen. Da sorgt der Intendant behutsam aber unbeirrbar für Gerechtig­keit. Wegen des Kostenrah­mens, der uns für Gagen zur Verfügung steht; wurde ja auch das Konzept entwickelt, in Heilbronn ein Ensemble von vorwiegend jungen Schauspie­lern für zwei bis drei Jahre zu versammeln. Sie erhalten so in Heilbronn die Chance, eine Professionalität zu erwerben, die sie eigentlich erst in die Lage setzt, Gagenforderungen anmelden zu können. Für eine vergleichsweise gerechte Ent­lohnung aller hier beschäftig­ten Schauspieler, tritt übrigens die Verwaltungsdirektion die­ses Hauses genauso ein wie ich.

Ueckert: Als Sie 1980 in Heil­bronn die Nachfolge von Wal­ter Bison als Intendant in den Theaterprovisorien antraten, hatte das Heilbronner Theater knapp 50.000 Zuschauer pro Spielzeit. Heute sind es rund 200.000. Quantitativ hervorra­gend in der Leistung. Ist das auch schon ein Zeichen für Qualität?

Wagner: Nein - aber es beru­higt.

Ueckert: Und wann schlägt die Quantität in Qualität um?

Wagner: Diese Frage hat in meinen Augen eine hochmü­tige - und falsche Vorausset­zung. Sie suggeriert nämlich, daß viele zustimmende Leute, wie unser seit sechs Jahren ste­tig zunehmendes Publikum, für Qualität unempfänglich sein müßten. Das ist bestimmt falsch. Theatralische Qualität gab es in vielen unserer Vor­stellungen, die - oder trotzdem sie - viele besucht haben. „Kri­stallklar“, „Ghetto", „Diener zweier Herren", „Evita“ waren mit Quantität gesegnet und dennoch stand ihre Qualität au­ßer Frage. „Spiel um Zeit", un­sere letzte Produktion, fand In­teresse bei vielem, vorwiegend jungem Publikum. Der Schluß gilt deshalb in meinen Augen eher umgekehrt. Leere Reihen sind kein untrügliches Merk­mal für Qualität.

Ueckert: Als das neue Haus am Berliner Platz 1982 eröffnet wurde, setzten Sie das Musical „My Fair Lady“ als Auftaktins­zenierung auf die Bühne. We­nige Tage später folgte Goe­thes „Faust I". Würden Sie das Haus nochmals mit diesen Stücken eröffnen wollen?

Wagner: Die Entscheidung, mit einem Musical und einem Klas­siker das Haus zu eröffnen, ist auch heute in meinen Augen richtig. Daß wir mit der Kon­zeption beider Inszenierungen die technischen Voraussetzun­gen des Hauses zeigen wollten und damit auf dem Prüfstand hatten, hat uns mit den Gren­zen der Möglichkeiten schnell vertraut gemacht. Wir würden heute mit dem Wissen dieser Grenzen andere Konzeptionen verfolgen.

Ueckert: Musicals sind als Schwerpunkt in der Arbeit des Hauses geblieben - mit Schauspielern erarbeitet, nicht mit Sängern. Wollen Sie das unverbildete Heilbronner Pu­blikum damit ködern oder schlichte Erkenntnisse über das Musical-Theater vermitteln?

Wagner: Ich verstehe Ihre Frage nicht. Theater will Publi­kum ködern. Und nur, wenn ein Schauspieler singen kann, kann er in einem Musical spie­len, und wenn ein Sänger nicht schauspielern kann, kann er das trotz seiner Gesangsfähig­keit nicht. Wir halten die Arbeit von Schauspielern in einem Musical für einen legitimen Ansatzpunkt der künstleri­schen Verwirklichung - vor al­lem, wenn man bedenkt, daß der Mensch in Komödie und Tragödie immer am Rande sei­ner Existenz angesiedelt ist.

Ueckert: Musiktheater - das ist der große Erfolg am Heil­bronner Theater. Die Zahlen beweisen es, wenn es um die Platzausnutzung bei den Opern- und Operetten-Gastspie­len geht. Sie waren aber nicht immer glücklich über die Zu­sammenarbeit mit den Musik­bühnen aus dem Land Baden-Württemberg. Jetzt haben Sie seit einigen Monaten schon die Landesgrenzen überschritten. Aber das Musiktheater im Re­vier Gelsenkirchen kann auch nicht all das bieten, was verein­bart wurde?

Wagner: Musiktheater von fremden Bühnen gehört zu un­serem Repertoire, weil der Ge­meinderat das so beschlossen hat. Wir versuchen durch Dis­position und finanzielle Ver­handlung ein optimales Ange­bot in unseren Spielplan zu be­kommen. Das war, wie sich herausgestellt hat, durch Thea­ter in Baden-Württemberg nicht ausschließlich möglich. Das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen sollte lediglich eine der vier Positionen beset­zen, die wir dem Publikum bie­ten wollen. Ob Gelsenkirchen das noch kann - da es einer ri­gorosen Kürzung seines Etats unterworfen wurde - wird sich herausstellen. Das Musikthea­ter im Rahmen der dispositio­nellen Vorgaben und des Etats, wie in den letzten Spielzeiten, wird auch in Zukunft unseren eigenen Spielplan ergänzen.

Ueckert: „TanzTheaterTage“, ausverkaufte Ballett-Aufführun­gen in Heilbronn. Soll Heil­bronn ein Gastspielhaus für in- und ausländische Ballett- und Volkstanzgruppen werden?

Wagner: Ein solches Gastspiel­haus war unser Theater nie. Aber wir haben kein eigenes Ballett, und zu den vier Positio­nen des Musiktheaters, die ich vorhin erwähnt habe, gehört eine Serie aus dem Bereich des Balletts. Seit der ersten Spiel­zeit haben wir diese Position überregional besetzen können. Die französische Truppe Ro­land Petit, das spanische Ballett Antonio Gades, die Warschauer Staatsoper und zuletzt die Mazowsze-Truppe waren zu Gast für eine Aufführungsserie bei uns. Das geht so weiter. Außer­dem haben wir einmal im Jahr TanzTheaterTage veranstal­tet, um das Ballettschaffen in Baden-Württemberg zu präsen­tieren. Das Heilbronner Publi­kum ist so mit den Strömungen des modernen Tanzes vertraut gemacht worden und hat dieses angenommen. Wir wollen des­halb auch das weiterführen.

Ueckert: Sind Gastspiele aus Polen billiger - als zum Bei­spiel aus England oder Frank­reich?

Wagner: In England und Frankreich gibt es kein Sub­ventionstheater wie in Polen. Deshalb wird es sehr viel schwieriger sein, englische und französische Truppen mit dem großen personellen Aufwand eines Musik-Gastspiels nach Heilbronn zu bekommen. Mit polnischen Ensembles war das möglich; auch von den finan­ziellen Bedingungen her.

Ueckert: Warum kommen keine Theatergruppen aus der Tschechoslowakei oder aus der Schweiz und Österreich zu uns ins Käthchenstädtchen?

Wagner: Warum führt nicht ein ganz anderer Journalist dieses Interview? Im Ernst: Wir wür­den gerne aus der Tschechoslo­wakei, aus der Schweiz oder aus Österreich im Rahmen un­serer Disposition und unserer finanziellen Möglichkeiten Theater bei uns zu Gast haben. Man kann eben nicht alles ha­ben und eine Entscheidung schließt andere aus.

Ueckert: Das Kulturabkommen mit der DDR ist unter Dach und Fach. Heilbronner Kommunalpolitiker wollen Städtepartner­schaften anknüpfen - zum Beispiel zu Frankfurt an der Oder. Da gibt es ja auch ein Theater. Haben Sie schon Kon­takte zu Ihren Kollegen da drü­ben geknüpft?

Wagner: Das zum Beispiel wäre eine gute Gelegenheit für die Kommunalpolitik, bei der Kontaktaufnahme mit der Part­nerschaftsstadt mit dem eige­nen Theater Hand in Hand zu arbeiten. Vielleicht gibt sich das in Zukunft.

Ueckert: Kinder- und Jugend­theater hat an Ihrem Hause kei­nen geringen, aber auch kei­nen allzu großen Stellenwert. Mit der Zeit war auch das aus Ihrem Hause zu vernehmen, daß es sinnvoll sei, eine eigene Truppe für das Kinder- und Jugendtheater zu besitzen. Ist das bisher nur ein Diskussions­ansatz bei Ihnen, oder machen Sie sich auch schon konkrete Gedanken?

Wagner: Mit der Produktion von zwei Stücken für das Kin­der- und Jugendtheater ist un­ser Haus personell, finanziell und räumlich ausgelastet. Un­sere Überlegungen zur Etablie­rung einer eigenen Jugend­theater-Truppe standen im Zu­sammenhang mit der Möglich­keit, das damalige „Theater in der Kelter“ wieder bespielbar zu machen. Das scheint im Au­genblick so wenig realisierbar, wie eine Erhöhung der Subven­tionen für diesen Zweck.

Ueckert: Regisseure an Ihrem Hause kommen und gehen - ob für das Schauspiel oder das Musical. Sie, Herr Wagner, sind Oberspielleiter und Intendant in einem. Reizt es Sie nicht, sich auch über einen längeren Zeit­raum kontinuierlich mit einem Regisseur an Ihrem Hause auseinanderzusetzen?

Wagner: Ich setze mich mit je­dem hier arbeitenden Regis­seur auseinander, ob er nun eine Inszenierung macht oder kontinuierlich immer wieder bei uns arbeitet. Jede künstleri­sche Verwirklichung wird der Verantwortung entsprechend, die der Intendant für die künst­lerischen Ergebnisse hat, be­gleitet und wenn Regisseure den künstlerischen Willen des Hauses repräsentieren können, werden sie wieder verpflichtet und können kontinuierlich Ar­beit leisten. Von einer konsti­tuierten Spielleitung zwischen meinem jungen Ensemble und einem Regisseur halte ich nur dann etwas, wenn die pädago­gischen und künstlerischen Fä­higkeiten eines Regisseurs das nahelegen. Eine solche Persön­lichkeit habe ich bisher nicht gefunden.

Ueckert: Der Wechsel im En­semble war in diesem Jahr be­sonders groß. Viele begabte junge Schauspieler verschwan­den von der Bildfläche. Manche auch mit einem gehörigen Zorn in Bauch und Kopf. Die jungen Leute von den Schauspielschu­len geben sich also weiterhin in Heilbronn die Klinke in die Hand. Der Stamm an konti­nuierlich hier arbeitenden Kräften wird immer kleiner. Kann man da eigentlich noch von einem Ensemble reden oder muß man nicht eher sagen - der Charakter des Gastspiels ist vorherrschend?

Wagner: Neben dem Stamm kontinuierlich hier arbeitender Kräfte - der immer gleich bleibt - werden hier junge Schauspieler für zwei bis drei Jahre verpflichtet, weil sie be­gabt sind. Wir geben uns viel Mühe bei der Auswahl, aber Begabung ist nichts als selbst­verständlich. Was sie hier ler­nen müssen, sind Erfahrungen, technische Fertigkeiten und eine Charakterverbreiterung, die ohne Disziplin nicht mög­lich ist. Ich mache sie alle vor jedem Abschluß ausdrücklich darauf aufmerksam. Wer das nicht einlösen kann, geht manchmal zornig und wie viele Menschen das tun; ist er nicht zornig auf das eigene Versa­gen. Er ist zornig auf die ande­ren. Aber das ist nicht der Nor­malfall. Viele junge Leute, die hier angefangen haben, gehen weiter an andere größere Thea­ter und halten Kontakt mit uns. So wird es auch mit den jungen Leuten sein, die in diesem Jahr neu zu uns kommen. Auch von Ihnen werden die meisten zwei bis drei Jahre bleiben und hier in einem Ensemble spielen und lernen. Das hat mit Gastspielen gar nichts zu tun.

Ueckert: Der Kontakt zum Pu­blikum ist vornehmlich durch die Aufführungen allabendlich in Ihrem Hause gegeben - ein Voyeur-Kontakt, der Normal­fall. Darüber hinaus pflegen Sie Matineen, Plaudereien am In­tendanten-Stammtisch und trei­ben publizistisch mit Ihrem Theaterblatt gute Propaganda. Die Zeit der Diskussionen mit dem Publikum, zum Beispiel nach Aufführungen, scheint endgültig vorüber.

Wagner: Ich glaube nicht, daß die Aufgabenstellung, die Ihre Frage für Theater formuliert, den Kern trifft. Die Zeit, in der Diskussionen und Absichtser­klärungen den Wert von Thea­ter legitimieren mußten oder gar ausmachten, ist lange vor­bei. Das Theater wirkt direkt aus seinen täglichen Auffüh­rungen auf sein Publikum, und das als Voyeur-Kontakt zu be­zeichnen, ist falsch. Ein Voyeur ist draußen, macht verbotene Blicke und bezieht daraus eine Ersatzbefriedigung. Das Thea­ter wirkt durch den Schauspie­ler direkt auf sein Publikum, er­zeugt Gefühle, Sympathie und Antipathie, und in einer Atmo­sphäre des Miteinander wird Reichtum und Geist erlebbar. Dieses Erlebnis kann einen na­türlich dazu bringen, Erkennt­nisse zu bekommen, aber Dis­kussionen nach Aufführungen können - das merken wir im­mer wieder - nicht Einsichten nachliefern, die man durch eine Aufführung nicht bekommen hat. Wir werden auch in Zu­kunft Diskussionen veranstal­ten, wollen aber, so gut es geht vermeiden, daß auf beiden Sei­ten immer die gleichen Kli­schees ausgetauscht werden und immer die gleichen Leute reden.

Ueckert: Der Heilbronner Theaterverein unterstützt Ihr Haus auf eine rührende Weise. Nach anfänglichen Schwierig­keiten, scheinen Sie diese mütterlich-sorgende Zuneigung zu genießen, der Kontakt ist herz­licher geworden. Aber neben den ordentlichen Subventionen ist die Hilfe des Theatervereins doch wohl mehr eine symboli­sche?

Wagner: Die Subventionierung des Theaters ist Aufgabe der Gemeinde, und der Theaterverein soll und kann in diese Auf­gabe nicht eintreten. Eine sym­bolische Unterstützung, wie sie der Theaterverein unserer Ar­beit immer wieder zuteil wer­den läßt, ist wichtig. Sie macht deutlich, daß die Subventionie­rung des Theaters richtig und daß sie notwendig ist. Die Schauspieler und die Theater­leitung dieses Hauses genießen in der Tat den guten Kontakt, der sich ergeben hat. Wir wis­sen, daß wir das vor allem dem Verständnis und der musischen Begeisterungsfähigkeit des Vorsitzenden des Vereins, Herrn Altbürgermeister Erwin Fuchs, verdanken.

Ueckert: Ihr Haus am Berliner Platz 1 platzt aus allen Nähten. Der geplante Anbau, für andere kulturelle Zwecke gedacht, fehlt noch immer. Das Theater ist ein Bautorso. Wäre ein An­bau, der nur dem Theater zur Verfügung steht, nicht sinn­voll?

Wagner: Natürlich wäre ein Anbau wie Sie ihn beschreiben, sinnvoll und die beste Ergän­zung für den täglichen Theater­betrieb. Im Augenblick fehlt uns an vielen Stellen der not­wendige Räum, und wir bezie­hen eben in der Weingärtnergenossenschaft ein Lager, über das wir froh sind, das aber si­cher auch bald überquellen wird. Wir sind aber um eine schrittweise Verbesserung unserer Situation durchaus froh.

Ueckert: Die Zusammenarbeit mit Tourneebühnen, Film, Funk und Fernsehen soll im Zeitalter des Überangebots an Reizen aus dem Kulturbereich verstärkt werden. Das senkt die Kosten. Wie halten Sie es mit diesen Flirts des Theaters, ohne daß es sein Gesicht verliert?

Wagner: Das Publikum eines Theaters empfindet sicher eine Zusammenarbeit mit Fernse­hen und Tourneebühnen als einen positiven Ausdruck für die Qualität der Arbeit des ei­genen Hauses. Wir sind mit Produktionen wie Evita, Nacht, Mutter und Spiel von Liebe und Zufall gastie­rend draußen gewesen und ha­ben Zeugnis ablegen können von der Arbeit in Heilbronn. Wir konnten unserem Publi­kum Künstler präsentieren, die wir uns anders nicht in unser Haus hätten holen können. Wir haben zusätzlich Geld verdient. Außerdem mußten wir dadurch eine Produktionsposition nicht mit unserem sehr beanspruch­ten Ensemble bestreiten. Die Arbeit des Ensembletheaters bleibt ja nach wie vor Ziel und Inhalt unserer Arbeit.

Ueckert: Sie haben das Theater in Heilbronn, wie es heute steht, mit aufgebaut. Was ha­ben Sie dabei erlitten, was ge­lernt?

Wagner: Diese sieben Jahre des Aufbaus waren, wenn ich zurückblickend überlege, ei­gentlich ein ununterbrochener Kampf um öffentliche Zustim­mung für dieses Heilbronner - und für meine Vorstellung von - Theater. Gelitten habe ich darunter, daß ich in diesem Kampf so viele getroffen habe, die mir scheinbar Mitarbeit und Zustimmung signalisiert haben und denen in Wirklichkeit doch nur persönliche Bestätigung und ein Zipfelchen Teilhabe am Spiel der Macht wichtig ge­wesen sind. Das gilt für eine Reihe junger Schauspieler, für Regisseure, für einige der Ent­scheidungsträger in den Äm­tern, von denen dieses Haus abhängig ist - und für man­chen Journalisten, der die Mühsal dieses Aufbaus kom­mentiert hat. Gelernt habe ich, daß einer Idee folgen, sie in die Tat umsetzen, ihrer dienen dür­fen; eine große Gnade ist, die mir im Zenit meines Lebens zu­teil wurde und daß man nicht undankbar sein darf, einer sol­chen Möglichkeit gegenüber. Ich bin deshalb der Stadt und allen dankbar, die mich tun las­sen, was - und wie - ich tun muß, was ich muß.

Ueckert: Theater in der Provinz ist für Sie, Herr Wagner, kein Schimpfwort. Aber provinziell wollen Sie auch nicht sein?

Wagner: So ist es.

Ueckert: Vielen Dank für das Gespräch.

Sonderbeilage NECKAR-EXPRESS zu
„Fünf Jahre Theater Heilbronn am Berliner Platz“
Donnerstag, 24. September 1987
Nummer 39 / Seite 13 bis 24

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