Sieben Jahre Aufbau –
Kampf um öffentliche Zustimmung
Jürgen
Dieter Ueckert im Gespräch
mit Klaus
Wagner, Heilbronns Stadttheater-Intendant
Jürgen Dieter Ueckert: Theater sollte in der Gesellschaft immer ein Skandal sein oder einen
darstellen - wie auch immer; in den sechziger und siebziger Jahren formulierten
einige Theatermacher mit diesen und ähnlichen Sätzen ihr Konzept. Inwiefern
ist Ihr Konzept, Herr Wagner, skandalös? Stichwort: Der Mensch in Komödie und
Tragödie ist immer am Rande seiner Existenz angesiedelt.
Klaus Wagner: Für Menschen, die Einordnung und
Unterordnung für ein Lebensrezept halten, ist das Außerordentliche immer ein
Skandal Und daß der Mensch im Theater in Komödie und Tragödie am Rande seiner
Existenz angesiedelt ist, halte ich für wahr. Die Wahrheit zeigen ist
skandalös. So verstanden, ist Theater skandalös und es gehört zu meinem
Konzept für das Theater, die Wahrheit zu zeigen und Menschen am Rande ihrer
Existenz zu zeigen. Ich kann mich also freuen, daß Ihre Formulierung mich in
die Reihen progressiver Theatermacher stellt. Leider gelingt es nicht immer,
zu erfüllen, was man will. Im Sinne Ihrer Formulierung werden sicher viele
sagen: Gott sei Dank.
Ueckert: Herr Wagner, der Streit vor dem Heilbronner Arbeitsgericht um Ihr 13.
Monatsgehalt ist vorüber. Sie haben Ihre Klage gegen die Stadt Heilbronn nach
einem Gespräch mit Oberbürgermeister Dr. Manfred Weinmann zurückgenommen. Es
gibt: also keinen zweiten Prozeßtermin und damit auch kein 13. Monatsgehalt.
Sie beharren aber weiterhin auf Ihrem bisherigen Rechtsstandpunkt. Wie ist
diese neue Konfusion zu verstehen?
Wagner: Der Blick auf die zukünftige
Entwicklung hat den Herrn Oberbürgermeister und mich zusammengeführt und uns
einen Ausgleich nahegelegt. Der Sinn des, Streits war ja von vornherein, vor
Augen zu führen, daß der Umgang der Verwaltung mit dem Theater und seiner
Leitung in Zukunft überprüft werden muß. Der Streit hat das in den letzten Monaten
deutlich gemacht. Jetzt - im Hinblick auf die Neuordnung der Zuständigkeiten,
die Innenministerium und Ministerpräsident der Stadtverwaltung nahegelegt
haben - mußte an die Zukunft des Theaters gedacht werden. Es ist deshalb sicher
keine Konfusion, wenn man auf Konfrontationen verzichtet, auch ohne
Rechtsstandpunkte zu verlassen.
Ueckert: Herr Wagner, Ihr zweiter Fünf-Jahres-Vertrag als Intendant des
Stadttheaters Heilbronn läuft 1990 aus, Wenn Sie oder die Stadt 1988 Ihren
Vertrag nicht kündigen, verlängert er sich automatisch bis 1992, danach in
derselben Prozedur bis 1995. Nach den Geschehnissen der letzten Wochen und
Monate - glauben Sie, daß Sie das Heilbronner Theater auch in die neunziger
Jahre führen werden?
Wagner: Als mir der Herr Oberbürgermeister
seinerzeit die Frage stellte, ob ich mich über das Jahr 1985 hinaus an das
Theater der Stadt Heilbronn binden wollte, antwortete ich, daß ich mit einer
solchen Bindung über den Rest meiner Lebensarbeitszeit und -arbeitskraft
verfügen müßte. Der Herr Oberbürgermeister fand das damals vernünftig und
akzeptabel. Ich habe bis heute keinen Grand, zu glauben, daß die Stadt
Heilbronn von dieser Vertragsvoraussetzung abweichen will.
Ueckert: Der persönliche Kontakt zwischen Ihnen und dem Kulturdezernenten der Stadt ist gleich null. Sie verkehren vornehmlich schriftlich oder über Dritte miteinander. Ist das für Sie ein tragbarer Zustand? Müssen sich nicht beide Seiten im Interesse des Theaters aufeinander zubewegen?
Wagner: Theater ist eine mit
Verwaltungsnormen schwer vereinbare Institution. Das Kulturdezernat ist die
Nahtstelle, an der sich die Bedürfnisse des Theaters mit diesen Normen treffen
können. Dort könnten Unverständnisse und Mißverständnisse ausgeräumt, gemildert,
und Wege gewiesen werden. Deshalb ist es bedauerlich, wenn der Kontakt
zwischen Intendant und Dezernent geringer ist, als das wünschenswert wäre. Ich
nütze aber jede Gelegenheit, um diesen Kontakt herzustellen und werde das auch
zukünftig tun.
Ueckert: Herr Wagner, Sie deuteten es schon an - in nächster Zeit wird es noch
harte Verhandlungen mit der Stadt Heilbronn geben. Die Landesregierung in
Baden-Württemberg will, daß Zuständigkeiten neu geordnet werden. Wird die Position
des Intendanten dadurch gestärkt oder - Ihrer Ansicht nach - eher geschwächt?
Wagner: Um die Position des Intendanten geht
es bei der Neuordnung der Zuständigkeiten nur insoweit, als bessere
Arbeitsvoraussetzungen geschaffen werden sollten, mit denen das Theater aus
seiner eigenen Kompetenz im Rahmen seines Etats leben kann. Daß diese, die
Zuständigkeiten der Theaterleitung neu ordnende Verfassung notwendig ist, haben
die Landesregierung und der Herr Ministerpräsident persönlich bekundet. Ich
will mithelfen, daß eine tragfähige Neuordnung in den nächsten Monaten zustande
kommt, und ich achte dabei nicht vorrangig auf eine Schwächung oder Stärkung
meiner eigenen Position.
Ueckert: Theater kostet Geld - viel Geld. Viele Heilbronner Vereine könnten
neidisch sein. Und Angriffe gegen das Theater sind oft in diesem Neid begründet.
Am billigsten wäre es, kein Theater zu unterhalten, schwäbisch gesagt. Wer sich
entschließt, subventioniertes Theater zu veranstalten, muß heutzutage tief in
die Stadt- und Staatssäckel greifen. Reicht der Zuschuß für das Heilbronner
Theater aus?
Wagner: Verwaltungsdirektor Frahm hat in den
letzten Monaten eruiert, wieviel Geld in einer Kommune die Tatsache in Umlauf
bringt, daß sie sich zur Subventionierung eines Theaters entschlossen hat. Das
läßt eher den Schluß zu, daß es ein vernünftiger wirtschaftlicher Entschluß
ist, ein Theater zu subventionieren, und daß Geld bringt, was Geld kostet. Der
Zuschuß, den Heilbronn für das Theater trägt, muß aber auch in Zukunft so
bemessen sein, daß es für die Kommune zumutbar ist, dieses Theater zu
betreiben. Das wird in dem Zuschußrahmen möglich sein, der im Augenblick zur
Verfügung steht - normale Steigerungen der Einzelpositionen natürlich eingerechnet.
Ueckert: Schauspieler an Ihrem Hause werden nicht gerade üppig entlohnt. Der
Mensch steht im Luxusgegenstand Theater im Mittelpunkt - nicht Prunk und Protz
in der Selbstdarstellung des Hauses. Warum sind Schauspieler mit ihren Gagen,
im Verhältnis zur Arbeitszeit so miserabel dran? Kämpfen Sie, Herr Wagner,
nicht genug für die Schauspieler, gegen eine am falschen Ende sparende
Verwaltung des Hauses?
Wagner: Die Honorierung der Künstler ist im
Vergleich zu ihrem Lebensrisiko in der Tat oft gering. Die Gagen des Heilbronner
Theaters bewegen sich aber in der Vergleichbarkeit mit ähnlichen Häusern. Eine
Monatsgage, die zu Beginn meiner Amtszeit unter 2.000 Mark lag, beträgt in der
Zwischenzeit über 3.000 Mark. Auch die Anfängergehälter haben etwa dieselbe
Höhe wie an vergleichbaren Instituten. Nicht jeder junge Schauspieler aber ist
für uns das wert, was er fordern zu können meint. Manche verstehen auch die
Sicherheit, die ein Jahresvertrag in Heilbronn bietet, falsch, wollen eine
vertragliche Bindung, die sie eingegangen sind, nicht mehr - oder nur dann
erfüllen, wenn sie ihre Vorstellungen von Geld durchsetzen können. Sie wollen
erst fordern und dann - vielleicht - lernen. Da sorgt der Intendant behutsam
aber unbeirrbar für Gerechtigkeit. Wegen des Kostenrahmens, der uns für Gagen
zur Verfügung steht; wurde ja auch das Konzept entwickelt, in Heilbronn ein
Ensemble von vorwiegend jungen Schauspielern für zwei bis drei Jahre zu
versammeln. Sie erhalten so in Heilbronn die Chance, eine Professionalität zu
erwerben, die sie eigentlich erst in die Lage setzt, Gagenforderungen anmelden
zu können. Für eine vergleichsweise gerechte Entlohnung aller hier beschäftigten
Schauspieler, tritt übrigens die Verwaltungsdirektion dieses Hauses genauso
ein wie ich.
Ueckert: Als Sie 1980 in Heilbronn die Nachfolge von Walter Bison als Intendant
in den Theaterprovisorien antraten, hatte das Heilbronner Theater knapp 50.000
Zuschauer pro Spielzeit. Heute sind es rund 200.000. Quantitativ hervorragend
in der Leistung. Ist das auch schon ein Zeichen für Qualität?
Wagner: Nein - aber es beruhigt.
Ueckert: Und wann schlägt die Quantität in Qualität um?
Wagner: Diese Frage hat in meinen Augen eine
hochmütige - und falsche Voraussetzung. Sie suggeriert nämlich, daß viele
zustimmende Leute, wie unser seit sechs Jahren stetig zunehmendes Publikum,
für Qualität unempfänglich sein müßten. Das ist bestimmt falsch. Theatralische
Qualität gab es in vielen unserer Vorstellungen, die - oder trotzdem sie -
viele besucht haben. „Kristallklar“, „Ghetto", „Diener zweier
Herren", „Evita“ waren mit Quantität gesegnet und dennoch stand ihre
Qualität außer Frage. „Spiel um Zeit", unsere letzte Produktion, fand Interesse
bei vielem, vorwiegend jungem Publikum. Der Schluß gilt deshalb in meinen Augen
eher umgekehrt. Leere Reihen sind kein untrügliches Merkmal für Qualität.
Ueckert: Als das neue Haus am Berliner Platz 1982 eröffnet wurde, setzten Sie das
Musical „My Fair Lady“ als Auftaktinszenierung auf die Bühne. Wenige Tage
später folgte Goethes „Faust I". Würden Sie das Haus nochmals mit diesen
Stücken eröffnen wollen?
Wagner: Die Entscheidung, mit einem Musical
und einem Klassiker das Haus zu eröffnen, ist auch heute in meinen Augen
richtig. Daß wir mit der Konzeption beider Inszenierungen die technischen
Voraussetzungen des Hauses zeigen wollten und damit auf dem Prüfstand hatten,
hat uns mit den Grenzen der Möglichkeiten schnell vertraut gemacht. Wir würden
heute mit dem Wissen dieser Grenzen andere Konzeptionen verfolgen.
Ueckert: Musicals sind als Schwerpunkt in der Arbeit des Hauses geblieben - mit
Schauspielern erarbeitet, nicht mit Sängern. Wollen Sie das unverbildete
Heilbronner Publikum damit ködern oder schlichte Erkenntnisse über das
Musical-Theater vermitteln?
Wagner: Ich verstehe Ihre Frage nicht.
Theater will Publikum ködern. Und nur, wenn ein Schauspieler singen kann, kann
er in einem Musical spielen, und wenn ein Sänger nicht schauspielern kann,
kann er das trotz seiner Gesangsfähigkeit nicht. Wir halten die Arbeit von
Schauspielern in einem Musical für einen legitimen Ansatzpunkt der künstlerischen
Verwirklichung - vor allem, wenn man bedenkt, daß der Mensch in Komödie und
Tragödie immer am Rande seiner Existenz angesiedelt ist.
Ueckert: Musiktheater - das ist der große Erfolg am Heilbronner Theater. Die Zahlen beweisen es, wenn es um die Platzausnutzung bei den Opern- und Operetten-Gastspielen geht. Sie waren aber nicht immer glücklich über die Zusammenarbeit mit den Musikbühnen aus dem Land Baden-Württemberg. Jetzt haben Sie seit einigen Monaten schon die Landesgrenzen überschritten. Aber das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen kann auch nicht all das bieten, was vereinbart wurde?
Wagner: Musiktheater von fremden Bühnen
gehört zu unserem Repertoire, weil der Gemeinderat das so beschlossen hat.
Wir versuchen durch Disposition und finanzielle Verhandlung ein optimales
Angebot in unseren Spielplan zu bekommen. Das war, wie sich herausgestellt
hat, durch Theater in Baden-Württemberg nicht ausschließlich möglich. Das
Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen sollte lediglich eine der vier
Positionen besetzen, die wir dem Publikum bieten wollen. Ob Gelsenkirchen das
noch kann - da es einer rigorosen Kürzung seines Etats unterworfen wurde -
wird sich herausstellen. Das Musiktheater im Rahmen der dispositionellen
Vorgaben und des Etats, wie in den letzten Spielzeiten, wird auch in Zukunft
unseren eigenen Spielplan ergänzen.
Ueckert: „TanzTheaterTage“, ausverkaufte Ballett-Aufführungen in Heilbronn. Soll
Heilbronn ein Gastspielhaus für in- und ausländische Ballett- und
Volkstanzgruppen werden?
Wagner: Ein solches Gastspielhaus war unser
Theater nie. Aber wir haben kein eigenes Ballett, und zu den vier Positionen
des Musiktheaters, die ich vorhin erwähnt habe, gehört eine Serie aus dem
Bereich des Balletts. Seit der ersten Spielzeit haben wir diese Position
überregional besetzen können. Die französische Truppe Roland Petit, das
spanische Ballett Antonio Gades, die Warschauer Staatsoper und zuletzt die
Mazowsze-Truppe waren zu Gast für eine Aufführungsserie bei uns. Das geht so
weiter. Außerdem haben wir einmal im Jahr TanzTheaterTage veranstaltet, um
das Ballettschaffen in Baden-Württemberg zu präsentieren. Das Heilbronner
Publikum ist so mit den Strömungen des modernen Tanzes vertraut gemacht worden
und hat dieses angenommen. Wir wollen deshalb auch das weiterführen.
Ueckert: Sind Gastspiele aus Polen billiger - als zum Beispiel aus England oder
Frankreich?
Wagner: In England und Frankreich gibt es
kein Subventionstheater wie in Polen. Deshalb wird es sehr viel schwieriger
sein, englische und französische Truppen mit dem großen personellen Aufwand
eines Musik-Gastspiels nach Heilbronn zu bekommen. Mit polnischen Ensembles war
das möglich; auch von den finanziellen Bedingungen her.
Ueckert: Warum kommen keine Theatergruppen aus der Tschechoslowakei oder aus der
Schweiz und Österreich zu uns ins Käthchenstädtchen?
Wagner: Warum führt nicht ein ganz anderer
Journalist dieses Interview? Im Ernst: Wir würden gerne aus der Tschechoslowakei,
aus der Schweiz oder aus Österreich im Rahmen unserer Disposition und unserer
finanziellen Möglichkeiten Theater bei uns zu Gast haben. Man kann eben nicht
alles haben und eine Entscheidung schließt andere aus.
Ueckert: Das Kulturabkommen mit der DDR ist unter Dach und Fach. Heilbronner
Kommunalpolitiker wollen Städtepartnerschaften anknüpfen - zum Beispiel zu
Frankfurt an der Oder. Da gibt es ja auch ein Theater. Haben Sie schon Kontakte
zu Ihren Kollegen da drüben geknüpft?
Wagner: Das zum Beispiel wäre eine gute
Gelegenheit für die Kommunalpolitik, bei der Kontaktaufnahme mit der Partnerschaftsstadt
mit dem eigenen Theater Hand in Hand zu arbeiten. Vielleicht gibt sich das in
Zukunft.
Ueckert: Kinder- und Jugendtheater hat an Ihrem Hause keinen geringen, aber
auch keinen allzu großen Stellenwert. Mit der Zeit war auch das aus Ihrem
Hause zu vernehmen, daß es sinnvoll sei, eine eigene Truppe für das Kinder- und
Jugendtheater zu besitzen. Ist das bisher nur ein Diskussionsansatz bei Ihnen,
oder machen Sie sich auch schon konkrete Gedanken?
Wagner: Mit der Produktion von zwei Stücken
für das Kinder- und Jugendtheater ist unser Haus personell, finanziell und
räumlich ausgelastet. Unsere Überlegungen zur Etablierung einer eigenen Jugendtheater-Truppe
standen im Zusammenhang mit der Möglichkeit, das damalige „Theater in der
Kelter“ wieder bespielbar zu machen. Das scheint im Augenblick so wenig
realisierbar, wie eine Erhöhung der Subventionen für diesen Zweck.
Ueckert: Regisseure an Ihrem Hause kommen und gehen - ob für das Schauspiel oder
das Musical. Sie, Herr Wagner, sind Oberspielleiter und Intendant in einem.
Reizt es Sie nicht, sich auch über einen längeren Zeitraum kontinuierlich mit
einem Regisseur an Ihrem Hause auseinanderzusetzen?
Wagner: Ich setze mich mit jedem hier
arbeitenden Regisseur auseinander, ob er nun eine Inszenierung macht oder
kontinuierlich immer wieder bei uns arbeitet. Jede künstlerische
Verwirklichung wird der Verantwortung entsprechend, die der Intendant für die
künstlerischen Ergebnisse hat, begleitet und wenn Regisseure den
künstlerischen Willen des Hauses repräsentieren können, werden sie wieder
verpflichtet und können kontinuierlich Arbeit leisten. Von einer konstituierten
Spielleitung zwischen meinem jungen Ensemble und einem Regisseur halte ich nur
dann etwas, wenn die pädagogischen und künstlerischen Fähigkeiten eines
Regisseurs das nahelegen. Eine solche Persönlichkeit habe ich bisher nicht
gefunden.
Ueckert: Der Wechsel im Ensemble war in diesem Jahr besonders groß. Viele
begabte junge Schauspieler verschwanden von der Bildfläche. Manche auch mit
einem gehörigen Zorn in Bauch und Kopf. Die jungen Leute von den Schauspielschulen
geben sich also weiterhin in Heilbronn die Klinke in die Hand. Der Stamm an
kontinuierlich hier arbeitenden Kräften wird immer kleiner. Kann man da
eigentlich noch von einem Ensemble reden oder muß man nicht eher sagen - der
Charakter des Gastspiels ist vorherrschend?
Wagner: Neben dem Stamm kontinuierlich hier
arbeitender Kräfte - der immer gleich bleibt - werden hier junge Schauspieler
für zwei bis drei Jahre verpflichtet, weil sie begabt sind. Wir geben uns viel
Mühe bei der Auswahl, aber Begabung ist nichts als selbstverständlich. Was sie
hier lernen müssen, sind Erfahrungen, technische Fertigkeiten und eine
Charakterverbreiterung, die ohne Disziplin nicht möglich ist. Ich mache sie
alle vor jedem Abschluß ausdrücklich darauf aufmerksam. Wer das nicht einlösen
kann, geht manchmal zornig und wie viele Menschen das tun; ist er nicht zornig
auf das eigene Versagen. Er ist zornig auf die anderen. Aber das ist nicht
der Normalfall. Viele junge Leute, die hier angefangen haben, gehen weiter an
andere größere Theater und halten Kontakt mit uns. So wird es auch mit den
jungen Leuten sein, die in diesem Jahr neu zu uns kommen. Auch von Ihnen werden
die meisten zwei bis drei Jahre bleiben und hier in einem Ensemble spielen und
lernen. Das hat mit Gastspielen gar nichts zu tun.
Ueckert: Der Kontakt zum Publikum ist vornehmlich durch die Aufführungen
allabendlich in Ihrem Hause gegeben - ein Voyeur-Kontakt, der Normalfall.
Darüber hinaus pflegen Sie Matineen, Plaudereien am Intendanten-Stammtisch und
treiben publizistisch mit Ihrem Theaterblatt gute Propaganda. Die Zeit der
Diskussionen mit dem Publikum, zum Beispiel nach Aufführungen, scheint
endgültig vorüber.
Wagner: Ich glaube nicht, daß die
Aufgabenstellung, die Ihre Frage für Theater formuliert, den Kern trifft. Die
Zeit, in der Diskussionen und Absichtserklärungen den Wert von Theater
legitimieren mußten oder gar ausmachten, ist lange vorbei. Das Theater wirkt
direkt aus seinen täglichen Aufführungen auf sein Publikum, und das als
Voyeur-Kontakt zu bezeichnen, ist falsch. Ein Voyeur ist draußen, macht
verbotene Blicke und bezieht daraus eine Ersatzbefriedigung. Das Theater wirkt
durch den Schauspieler direkt auf sein Publikum, erzeugt Gefühle, Sympathie
und Antipathie, und in einer Atmosphäre des Miteinander wird Reichtum und
Geist erlebbar. Dieses Erlebnis kann einen natürlich dazu bringen, Erkenntnisse
zu bekommen, aber Diskussionen nach Aufführungen können - das merken wir immer
wieder - nicht Einsichten nachliefern, die man durch eine Aufführung nicht
bekommen hat. Wir werden auch in Zukunft Diskussionen veranstalten, wollen
aber, so gut es geht vermeiden, daß auf beiden Seiten immer die gleichen Klischees
ausgetauscht werden und immer die gleichen Leute reden.
Ueckert: Der Heilbronner Theaterverein unterstützt Ihr Haus auf eine rührende
Weise. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, scheinen Sie diese
mütterlich-sorgende Zuneigung zu genießen, der Kontakt ist herzlicher
geworden. Aber neben den ordentlichen Subventionen ist die Hilfe des
Theatervereins doch wohl mehr eine symbolische?
Wagner: Die Subventionierung des Theaters
ist Aufgabe der Gemeinde, und der Theaterverein soll und kann in diese Aufgabe
nicht eintreten. Eine symbolische Unterstützung, wie sie der Theaterverein
unserer Arbeit immer wieder zuteil werden läßt, ist wichtig. Sie macht
deutlich, daß die Subventionierung des Theaters richtig und daß sie notwendig
ist. Die Schauspieler und die Theaterleitung dieses Hauses genießen in der Tat
den guten Kontakt, der sich ergeben hat. Wir wissen, daß wir das vor allem dem
Verständnis und der musischen Begeisterungsfähigkeit des Vorsitzenden des
Vereins, Herrn Altbürgermeister Erwin Fuchs, verdanken.
Ueckert: Ihr Haus am Berliner Platz 1 platzt aus allen Nähten. Der geplante
Anbau, für andere kulturelle Zwecke gedacht, fehlt noch immer. Das Theater ist
ein Bautorso. Wäre ein Anbau, der nur dem Theater zur Verfügung steht, nicht
sinnvoll?
Wagner: Natürlich wäre ein Anbau wie Sie ihn beschreiben, sinnvoll und die beste Ergänzung für den täglichen Theaterbetrieb. Im Augenblick fehlt uns an vielen Stellen der notwendige Räum, und wir beziehen eben in der Weingärtnergenossenschaft ein Lager, über das wir froh sind, das aber sicher auch bald überquellen wird. Wir sind aber um eine schrittweise Verbesserung unserer Situation durchaus froh.
Ueckert: Die Zusammenarbeit mit Tourneebühnen, Film, Funk und Fernsehen soll im
Zeitalter des Überangebots an Reizen aus dem Kulturbereich verstärkt werden.
Das senkt die Kosten. Wie halten Sie es mit diesen Flirts des Theaters, ohne
daß es sein Gesicht verliert?
Wagner: Das Publikum eines Theaters
empfindet sicher eine Zusammenarbeit mit Fernsehen und Tourneebühnen als einen
positiven Ausdruck für die Qualität der Arbeit des eigenen Hauses. Wir sind
mit Produktionen wie Evita, Nacht, Mutter und Spiel von Liebe und Zufall gastierend
draußen gewesen und haben Zeugnis ablegen können von der Arbeit in Heilbronn.
Wir konnten unserem Publikum Künstler präsentieren, die wir uns anders nicht
in unser Haus hätten holen können. Wir haben zusätzlich Geld verdient. Außerdem
mußten wir dadurch eine Produktionsposition nicht mit unserem sehr beanspruchten
Ensemble bestreiten. Die Arbeit des Ensembletheaters bleibt ja nach wie vor
Ziel und Inhalt unserer Arbeit.
Ueckert: Sie haben das Theater in Heilbronn, wie es heute steht, mit aufgebaut. Was haben Sie dabei erlitten, was gelernt?
Wagner: Diese sieben Jahre des Aufbaus
waren, wenn ich zurückblickend überlege, eigentlich ein ununterbrochener Kampf
um öffentliche Zustimmung für dieses Heilbronner - und für meine Vorstellung
von - Theater. Gelitten habe ich darunter, daß ich in diesem Kampf so viele
getroffen habe, die mir scheinbar Mitarbeit und Zustimmung signalisiert haben
und denen in Wirklichkeit doch nur persönliche Bestätigung und ein Zipfelchen
Teilhabe am Spiel der Macht wichtig gewesen sind. Das gilt für eine Reihe
junger Schauspieler, für Regisseure, für einige der Entscheidungsträger in den
Ämtern, von denen dieses Haus abhängig ist - und für manchen Journalisten,
der die Mühsal dieses Aufbaus kommentiert hat. Gelernt habe ich, daß einer
Idee folgen, sie in die Tat umsetzen, ihrer dienen dürfen; eine große Gnade
ist, die mir im Zenit meines Lebens zuteil wurde und daß man nicht undankbar
sein darf, einer solchen Möglichkeit gegenüber. Ich bin deshalb der Stadt und
allen dankbar, die mich tun lassen, was - und wie - ich tun muß, was ich muß.
Ueckert: Theater in der Provinz ist für Sie, Herr Wagner, kein Schimpfwort. Aber
provinziell wollen Sie auch nicht sein?
Wagner: So ist es.
Ueckert: Vielen Dank für das Gespräch.
„Fünf Jahre Theater Heilbronn am Berliner
Platz“
Donnerstag, 24. September 1987
Nummer 39 / Seite 13 bis 24
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen